Rezension zu Hans-Werner Sinn: „Der Euro. Von der Friedensidee zum Zankapfel“

Thorsten Polleit |

Einige wohlmeinende Anmerkungen zu: „Der Euro. Von der Friedensidee zum Zankapfel“, so der Titel des neuen Buches, das Hans-Werner Sinn, Präsident des Ifo-Instituts, vorgelegt hat.

Die Botschaft des mehr als 500 Seiten umfassenden Konvoluts, das zuvor bereits in englischer Sprache erschienen ist, lautet: Das Euro-Projekt läuft in die Sackgasse. Man kann nicht weitermachen wie bisher. Sonst droht eine alle und jeden erdrückende Schuldenlawine und letztlich womöglich sogar eine Situation, in der sich „alle einander die Köpfe einschlagen“. Das sollte Grund genug sein, um sich mit Sinns Erkenntnissen genauer zu beschäftigen.

Kenntnisreich und dabei stets verständlich erklärt Sinn seinen Lesern, dass die Einführung des Euro in vielen Teilnehmerländern zunächst einen inflationären Kreditboom entfacht und dabei ihre preisliche Wettbewerbsfähigkeit ruiniert hat. Die betroffenen Länder müssten sich nun, um wieder auf die Beine zu kommen, einer Deflation unterziehen. Weil das aber politisch nicht durchsetzbar sei, sieht Sinn für sie nur eine Möglichkeit: Sie müssen zumindest zeitweise aus dem Euro austreten.

Den Hauptgrund der Euro-Misere sieht Sinn in der „Aufweichung der nationalen Budgetbeschränkungen der jetzigen Krisenländer vor und während der Krise“. Dass die Regierungen gegen die „No-bail-out“-Klausel im Maastricht-Vertrag verstoßen, zerstört „auch einen Grundpfeiler einer funktionierenden Marktwirtschaft, nämlich das Prinzip, dass ein jeder für die Folgen seiner Handlungen einstehen muss.“ Die „Rettungspolitiken“ sorgen dafür, dass die Steuerzahler für die Misswirtschaft anderer Ländern einstehen müssen. Die Regierungen haben in ihrem „Rettungswahn“ die Bürger also in eine parlamentarisch abgesegnete Geiselhaftung genommen, und zwar allerspätestens mit der Etablierung des „Europäischen Stabilitätsmechanismus“ (ESM).

Mit Blick auf die Schuldensozialisierung erwähnt Sinn ein Lehrstück aus der Geschichte: Der erste amerikanische Finanzminister Alexander Hamilton (1757 – 1804) machte die Schulden der Bundesstaaten, die zur Finanzierung des Sezessionskriegs aufgenommen wurden, zu Bundesschulden, in der Hoffnung, diese Maßnahme würde die Union zusammenschweißen. Verlockt von der Aussicht, auch künftig ihre Schulden auf den Bund abladen zu können, verschuldeten sich hernach viele Bundesstaaten heftig. Auf den Kreditboom folgte der Niedergang. Bundesstaaten gingen reihenweise Pleite. Der ESM ist, so kann der Leser daraus schließen, also keine Lösung, sondern vielmehr ein Problemverstärker.

Seit Ausbruch der Krise sorgen die „Target-2-Überziehungskredite“ für eine gigantische Umverteilung von Einkommen und Vermögen zwischen den Euroländern – ein wirklich perfider Raubzug, den Sinn frühzeitig öffentlich entlarvt hat. Sie bedeuten, dass die EZB mit ihrer elektronischen Notenpresse die Leistungsbilanzdefizite der Krisenländer finanziert. Vereinfacht gesprochen haben die Steuerzahler aus Ländern mit einem positiven Target-2-Saldo – wie Deutschland, die Niederlande und Finnland – das Nachsehen, die Steuerzahler aus Ländern mit einem negativen Target-2-Saldo – wie in Griechenland, Portugal, Spanien, Italien und Frankreich – profitieren.

Übrigens waren die Target-2-Exzesse bisher für die deutsche Exportwirtschaft alles andere als nachteilig. Die deutsche Exportindustrie hat seit Anfang 2008 einen Überschuss gegenüber dem Rest des Euroraums und dem Rest der Welt von insgesamt 474 Mrd. Euro erzielt. Das entsprach in etwa der Zunahme der deutschen Target-2-Forderungen von 461 Mrd. Euro. Etwa 97 Prozent des deutschen Exportüberschusswunders wurde also von der EZB mit neu geschaffenen Euro finanziert, so Sinn. Ohne die EZB wäre der Erfolg für die deutsche Gewinn- und Beschäftigungslage wohl nicht möglich gewesen.

Sinn hadert nicht, beim Anleihekauf-Programm („QE“) der EZB im Verbund mit den Target-2-Überziehungskrediten Ross und Reiter zu nennen: „Die gemeinsame Druckerpresse wird benutzt, um die Staaten in gemeinsamer Haftung zu finanzieren. Das alles passiert nicht direkt, sondern auf hinreichend verschlungenen Wegen, um die Öffentlichkeit irrezuführen und den eigenen Juristen Scheinargumente für eine wirksame Verteidigung zu liefern.“ Sinn macht auch auf die mittlerweile gefährliche Machtansammlung bei der EZB aufmerksam. Vor allem weil „diese Institution in der Lage ist, zukünftige demokratische Entscheidungen zu präjudizieren, indem die fiskalischen Politikoptionen für die nationalen Parlamente eingeschränkt werden.“

In der angestrebten „Bankenunion“ sieht Sinn ein „System zur Kontrolle von Banken und einer partiellen Vergemeinschaftung ihrer Abschreibungslasten“. Für ihn ist sie nicht etwa eine Versicherung, sondern in erster Linie eine Umverteilungsmaßnahme, „weil der Schaden schon eingetreten ist, bevor der Versicherungsvertrag geschlossen wurde“. Das erklärt auch den enormen politischen Druck, der von den Regierungen aus Frankreich, Spanien, Italien auf Deutschland ausgeübt wurde, so Sinn: Ohne die Zustimmung Deutschlands zur Verlusthaftung würde auch noch das letzte bisschen Vertrauen in Banken aus den Krisenländern verpuffen.

Mit seinem Buch hat Sinn die bisher wohl umfangreichste Chronik und Analyse der Probleme der Euro-Konstruktion vorgelegt. Sinn benennt aber nicht nur die Probleme. Er bietet auch Lösungen an. Hierzu zählen beispielsweise der zeitweise Austritt einzelner Länder aus dem Euroraum, Schuldenschnitte und das Verhindern einer dauerhaften Haftungs- und Transferunion. Für den Leser könnte der Eindruck entstehen, durch mutige Reformen, durch das Vereinbaren von besseren und klügeren Regeln, wie Sinn sie vorschlägt, ließe sich die brisante Situation vielleicht entschärfen und zu einem guten Ende führen. Doch das wäre trügerisch.

Sinn verbleibt mit seinen Analysen letztlich doch auf der Ebene der Krisensymptome. Die zentrale Krisenursache kommt nicht zu Sprache: Dass nämlich der Euro ein ungedecktes Geld ist, das jederzeit und in beliebiger Menge von der EZB geschaffen werden kann. Solch ein „Fiat-Geld“ bringt wirtschaftliche und politisch-ethische Probleme. Das ist in der ökonomischen Theorie seit langem bekannt. Der Fiat-Euro führt nicht nur zu Kreditbooms und –busts. Er leistet vor allem auch einer ungeahnten Ausweitung des Staatsapparates Vorschub, die bürgerliche und unternehmerische Freiheiten zurückdrängt und damit den Wohlstand aller schmälert.

Der Fiat-Euro ist kein Wegbereiter für Frieden und Wohlstand in Europa, für den ihn seine Befürworter halten und ausgeben. Im Gegenteil. Er ist eine der wohl wirkungsmächtigsten Triebfedern, die Europa immer tiefer in ein interventionistisches-sozialistisches Gestrüpp hineintaumeln lässt. Es gibt keine begründete Hoffnungen, dass parametrische Reformen wie zum Beispiel eine „Neustrukturierung der Eurozone mit einer Konkursordnung, die das Prozedere für Schuldenschnitte im Verein mit einem temporären Austritt aus der Währungsunion und einem anschließenden Wiedereintritt regelt“, die daran etwas ändern werden.

Sinn rüttelt nicht an den grundlegenden Glaubensätzen, die im politischen Raum fest verwurzelt sind. Auch nach all seiner fundamentalen Skepsis gibt er die „Hoffnung für den Euro nicht auf.“ Mehr noch: Er würde sogar so weit gehen, die „Vereinigten Staaten von Europa“ zu fordern; und er bedauert, dass sie sich „leider“ nicht verwirklichen lassen, dass die EU „vorläufig ein Staaten-Bündnis ohne starke Zentralgewalt“ bleiben wird. Wie sich solch ein Plädoyer angesichts der aufgelaufenen Probleme ökonomisch rationalisieren lässt, bleibt im Unklaren.

Und leider schweigt Sinn sich auch über die Gefahren einer weiteren politischen Zentralisierung aus. Die Alternative zur Zentralisierung, der produktive Wettbewerb der Regionen und Systeme, findet sich in Sinns Lösungsrepertoire nicht. Vielleicht, weil sie politisch als unrealistisch erachtet wird? Sie zu rehabilitieren und in die öffentliche Diskussion zurückzubringen, ist jedoch bitter nötig, wenn die Menschen im Euroraum eine friedvolle und prosperierende Zukunft haben sollen. Friede und Wohlstand sind dauerhaft ohne eine freie Marktwirtschaft nicht zu haben. Das erfordert, den Staat und seinen Einfluss auf das Wirtschaftsund Gesellschaftsleben auf das Stärkste zurückzudrängen. Und auch das Geldmonopol des Staates zu beenden und einen Währungswettbewerb zuzulassen.

Doch diese ökonomischen Erkenntnisse geraten immer stärker in Vergessenheit. Vielen Politikern und auch Ökonomen mögen Sinns Empfehlungen daher zu radikal sein. Das aber wäre nicht sachgerecht. Wenn man Kritik übt, dann daran, dass sie nicht radikal genug sind.

 

 

 

Bild: Polleit: Metropolico, Sinn: ifo

 

 

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